Gesellschaftliche Aspekte von Contact-Tracing-Apps

Die Corona-Pandemie hat schon jetzt dramatische Auswirkungen auf fast alle Formen sozialer Interaktion und schränkt unseren Alltag erheblich ein. Das öffentliche Leben wird auf kapitalistisch verwertbares Tun beschränkt: So ist etwa Lohnarbeit erlaubt und wird trotz Risiken als nicht vermeidbar dargestellt, ins Kino gehen dürfen wir dagegen nicht; einkaufen wurde recht schnell wieder ermöglicht, aber die Öffnung der Freibäder musste hart erkämpft werden. Wie sich diese Einschränkungen und unser Alltag durch die Anwendung verschiedener Contact-Tracing-Apps, egal ob verpflichtend oder nicht, noch entwickeln werden, ist schwer abzuschätzen und birgt einige Risiken.

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Contact-Tracing-Apps sollen, nicht nur in Österreich, beim vor allem wirtschaftlich-neoliberal motivierten „Neustart der Gesellschaft“ helfen. Sie warnen ihre Benutzer:innen, falls diese in Kontakt mit einer inzwischen positiv getesteten Person waren. Dadurch sollen die Behörden, die solche Kontaktnachverfolgung bisher gemacht haben, entlastet werden. Wir sind froh, dass nach eingehenden Diskussionen mit Beiträgen von u. a. dem CCC, NOYB und epicenter.works diverse teils gravierende technische Probleme frühzeitig erkannt wurden und von den entsprechenden Initiativen behoben wurden bzw. werden. Ebenfalls beobachten wir die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen und ihren möglichen Auswirkungen mit großem Interesse. So wenden sich mehr und mehr Forscher:innen und Regierungen von PEPP-PT mit seinem zentralen Datenbank-Ansatz ab und setzen auf das dezentral strukturierte DP-3T. Auch die deutsche Bundesregierung ist mittlerweile von ihrem ursprünglichen, zentralisierten Ansatz abgekommen.

Was unserer Meinung nach in der öffentlichen Debatte bisher grob vernachlässigt wurde, ist die Sicht auf die Menschen, die direkt oder indirekt mit diesen Apps in Kontakt kommen werden, und wie deren Verhalten und alltägliches Leben davon beeinflusst wird. Technik gestaltet wie Menschen miteinander umgehen. Man bedenke nur, wie sich Interaktionen und Beziehungen mit der Verbreitung des World Wide Web, durch Instant Messenger oder Smartphones verändert haben. Entsprechend ist davon auszugehen, dass die breite Einführung von Contact-Tracing-Apps einen Einfluss auf verschiedene Arten von zwischenmenschlichen Beziehungen haben wird. Unsere Überlegungen zu diesen gesellschaftlichen und sozialen Implikationen möchten wir hier mit euch teilen. Das soll keine Panikmache sein – vielmehr möchten wir einen kritischen Umgang mit neuen Technologien ermöglichen, der notwendig ist, um diese umsichtig und nachhaltig anwenden zu können.

Ohne Zwang und DSGVO-konform?

Für eine effektive Auswertung von Kontakten und sinnvolles Tracing müssen gemäß aktueller Studien (z. B. jener der Universität Oxford) mindestens 60% der Bewohner:innen eines Landes die App installiert haben. Hier stellt sich die Frage, wie diese Beteiligung erreicht werden soll: Ein Zwang zur Installation über ein Gesetz oder eine Verordnung ist sicher nicht verfassungskonform (siehe unten), es bleibt also nur sozialer Zwang. Dafür gibt es informelle „Peer Pressure“ oder expliziteren Druck wie Eintrittsbeschränkungen (z. B. Zugang zu Räumen oder Veranstaltungen nur mit installierter App), Verbote bei Nichtbenutzung der App (z. B. für den ÖPNV oder für Reisen), Anreize über ein Bonus-Malus-System (wie sie teilweise bei Auto- oder Krankenversicherungen bereits im Einsatz sind) oder mittels Gamification (dabei werden in der App Auszeichnungen und virtuelle Belohnungen für „richtiges“ Verhalten vergeben).

Die momentane datenschutzrechtliche Rechtmäßigkeit der Verwendung bestimmter Daten durch die App basiert auf einer freiwilligen Einwilligung dazu. In die Erfassung von Standortdaten kann beispielsweise eingewilligt werden. Sollte die Verwendung der App jedoch verpflichtend werden, stellt sich sofort die grundlegende Frage, wie freiwillig diese innerhalb der App abgegebenen Einwilligungserklärungen noch sind. Für ihre datenschutzrechtliche Gültigkeit gemäß der DSGVO ist die tatsächliche (und nicht nur formale) Freiwilligkeit einer Einwilligungserklärung jedoch essenziell.

Nicht zuletzt durch die aktuelle Pandemie ist heute ohne Internet die Teilnahme am öffentlichen Leben kaum mehr möglich. Schon davor hat sich das Mobiltelefon zu einem wichtigen Teil unseres täglichen Lebens entwickelt – viele von uns verbringen den überwiegenden Teil ihres Tages in unmittelbarer Nähe ihres Handys. Der Einsatz dieser Technologie als Tracking- und Tracing-Instrument bietet sich daher an.

Ausrollen der App im Alleingang nicht möglich

Will man eine App österreichweit auf möglichst alle verfügbaren Geräte ausrollen bzw. zum Download anbieten, muss man unbedingt die Zustimmung beider großer Hersteller von Handy-Betriebssystemen erhalten, da deren Betriebssysteme (Google mit Android und Apple mit iOS) auf weit über 90 Prozent aller Geräten laufen. Beide Hersteller haben sich, was Corona-Tracing-Apps betrifft, bereits klar zugunsten eines dezentralisierten Ansatzes festgelegt. Ohne deren Unterstützung wird flächendeckendes Ausrollen nicht möglich sein.

Ein weiteres Problem sind Updates. Es wird nach Ausrollen der App zu Fehlerkorrekturen oder Nachbesserungen kommen, die auf alle Geräte zusätzlich installiert werden müssen. Bei einer Zusammenarbeit mit Apple kann das über den iOS-internen Mechanismus erfasst werden. Bei Android ist das deutlich schwieriger, da es diverse Varianten des Android-Betriebssystems gibt, etwa von verschiedenen Telekommunikations- oder Smartphone-Anbietern. Ausserdem ist der Update-Mechanismus bei Android viel komplexer, sodass viele Nutzer:innen ihre Android-Geräte gar nicht oder nur sehr selten updaten. Denn Google und Apple müssen die geplante Anpassung für dezentralisiertes Tracking erst per Update installieren. Zwar ist die App grundsätzlich auch ohne diese Anpassungen lauffähig, verbraucht dabei aber erheblich mehr Batterieleistung, was Leute dazu veranlassen würde, die App zu deinstallieren.

Überdies können, aufgrund von Hardware-Einschränkungen, manche Android-Geräte bereits nach wenigen Jahren nicht mehr aktualisiert werden, da keine neuen OS-Versionen für diese Geräte von den jeweiligen Anbietern bereitgestellt werden..

Beim Einsatz eines bluetoothfähigen Schlüsselanhängers (Bluetooth-Beacon) mangels eines tauglichen Smartphones ist eine besondere Stigmatisierung der Benutzer:innen zu befürchten. Darüber hinaus kann eine Risikoeinstufung anhand der Anzahl persönlicher Kontakte zu Selbsteinschränkungen führen, da Treffen mit Personen mit vielen Kontakten als hohes Risiko eingestuft werden. Beide Faktoren können zu einer weiteren Spaltung unserer Gesellschaft führen – arm oder reich, Stadt oder Land, viele oder wenige Kontakte.

Eine flächendeckende App muss selbstverständlich auf die Bedürfnisse aller ausgelegt werden. Das bedeutet, dass die Bedienbarkeit insbesondere für behinderte, chronisch kranke und alte Menschen gewährleistet sein muss. Schon bei normaler Software sind die Bedürfnisse genau dieser Gruppen, wenn überhaupt, nur ein nachgelagertes Ziel. In diesem Zusammenhang muss z. B. sichergestellt sein, dass Menschen, die einen Bluetooth-Beacon für bestimmte medizinische Geräte (Herzschrittmacher, Insulinpumpen o. Ä.) benötigen, diese weiterhin ohne Beeinträchtigung verwenden können.

Und wenn es keinen Impfstoff gibt?

Ein weiteres Problem ist die mittel- und langfristige Zukunft von Contact-Tracing-Apps. Es ist aus verschiedenen Gründen unklar, ob wir innerhalb des nächsten Jahres einen effektiven und sicheren Impfstoff gegen den Virus SARS-CoV-2 finden werden. Ohne Impfstoff würde Contact Tracing bei einer weiteren Verfolgung eines technischen Lösungsansatzes noch viele Jahre in Gebrauch sein. Politiker:innen könnten allerdings genauso gut darauf pochen, dass es Contact Tracing auch weiterhin brauche, um ähnlichen oder noch schlimmeren Pandemien vorzubeugen. Sie könnten deshalb fordern, dass am besten jede:r weiterhin eine Contact-Tracing-App nutzen sollte, um im Falle eines Ausbruchs sofort Daten über die vergangenen Wochen vorliegen zu haben und gleich zu Beginn der Verbreitung die Ansteckungspfade verfolgen zu können. Aus unserer Sicht führt dieses Vorgehen zu einer präventiven Vergrößerung des Heuhaufens auf der Suche nach einer Nadel, die man noch gar nicht sucht. Die App und das Prinzip des Contact Tracing alleine können keine Krankheit verhindern oder eindämmen, das kann nur unser aller Verhalten.

Wir befürchten, dass bei mittel- und langfristiger Beibehaltung von Contact-Tracing-Apps diese einer sukzessiven Ausweitung der Funktionen und Aufgaben unterliegen werden (Mission Creep), was den Weg zu großflächiger Überwachung ebnen könnte. Deshalb fordern wir, bei Entwicklung und Einsatz der App eine Sunset Clause (Auslaufklausel) zu implementieren, sodass die App nach Erreichung gewisser Kriterien bzgl. der Eindämmung des SARS-CoV-2 Virus bzw. zu einem gewissen vorher definierten Zeitpunkt nicht mehr funktional ist und alle Daten rückstandslos gelöscht werden. Ein eventuell nötige Verlängerung der Laufzeit bedarf einer expliziten freiwilligen Zustimmungserklärung.

Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Grundrechte

Grundrechte wie das Recht auf Freiheit, auf Freizügigkeit oder auf Versammlungsfreiheit dürfen selbst in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse des Schutzes der Gesundheit eingeschränkt werden. Dies ist beispielsweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen; bei einem derartigen Eingriff muss jedoch immer die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Für den Fall der Einführung einer rechtlichen Verpflichtung zur Nutzung einer App stellt sich vor allem die Frage, wie sehr die Folgen aus der Nutzung der App beziehungsweise die Sanktionen aufgrund der Nicht-Nutzung der App in die Grundrechte Einzelner eingreifen und ob diese Eingriffe verhältnismäßig, also gerechtfertigt erscheinen. Eine mögliche Folge der Nutzung der App könnte sein, dass man, sobald man als Kontakt einer infizierten Person identifiziert worden ist, sich sofort für einen bestimmten Zeitraum isolieren muss. Um diesen Eingriff in die persönliche Freiheit zu rechtfertigen, muss die App möglichst richtige und wahrscheinliche Ergebnisse liefern.

In Südkorea wurde eine Contact-Tracing-App verwendet, die Daten von Mobilfunkanbietern mit Kreditkartendaten und Standortdaten kombiniert. Ein unangenehmer Nebeneffekt der detaillierten Nachvollziehbarkeit der Bewegungsdaten waren beispielsweise Spekulationen über mögliche außereheliche Beziehungen. Die Betroffenen wurden in den sozialen Medien an den Pranger gestellt, sodass sich die Menschen in Südkorea mittlerweile vor sozialen Konsequenzen mehr fürchten als vor einer Ansteckung mit dem Virus SARS-CoV-2. In Singapur ist nur etwa ein Fünftel der Menschen dem Aufruf der Regierung gefolgt, eine Contact-Tracing-App zu verwenden.

Es besteht eine weitere Gefahr der Stigmatisierung oder Diskriminierung gewisser Bevölkerungsgruppen durch die Anwendung von Contact-Tracing-Apps. So wurden in Singapur ganze Gastarbeiter:innen-Quartiere unter Quarantäne gestellt, nachdem dort eine größere Anzahl von Menschen positiv auf das Virus getestet worden war. Werden Einreisen nach Österreich an die Verwendung der App geknüpft, könnte der falsche Eindruck entstehen, die Gefahr würde in erster Linie von „Fremden“ ausgehen, was verstärkt Rassismus Vorschub leisten würde.

Für viele Punkte, die wir hier ansprechen, bieten wir keine Lösungen oder konkreten Handlungsvorschläge; wir möchten keine Schwarz-Weiß-Malerei vornehmen, die Fragestellung der Einführung einer solchen Technologie auf dieser breiten Ebene ist äußerst komplex. Unser Ziel ist entsprechend, die bereits laufenden Diskussionen um diese Facetten anzureichern und damit neue Überlegungen und Gespräche anzuregen.

Weiterführendes Material

Chaos Computer Club Wien (C3W), ZVR 656204875